«Es ist Gabe und Fluch zugleich», meint Fabian Albisser aus Nottwil zu seiner Fähigkeit. Er kann sich an Gesichter noch nach Jahrzehnten erinnern – sie stechen ihm auch dann ins Auge, wenn er sie nur für einen Sekundenbruchteil in einer grossen Menschenmenge sieht. «Ein Kollege von mir meinte mal, das könnte an einer leichten Form von Autismus liegen. Dies wurde bei mir jedoch nie diagnostiziert.»
Laut verschiedenen Medienartikeln besitzen diese Fähigkeit nur etwa ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung, weswegen sie auch nur teilweise erforscht ist. «Obwohl sie etwas Spezielles ist und von Nutzen sein kann: Ich würde diese ‘Gabe’ abgeben, wenn ich könnte», so Albisser.
Nach Jahren noch immer erkannt
Über 20 Jahre lang war Fabian Albisser als Kriminalist tätig. Bei der Kriminalpolizei Luzern arbeitete er zuerst als Abteilungsleiter Jugend-kriminalität, anschliessend im Bereich Vermögensdelikte und danach sechs Jahre als Sozialinspektor von Emmen und 35 Partnergemeinden. Der Beruf bei der Kripo sei für ihn ein Bubentraum gewesen.
Erst bei der Arbeit habe er seine Fähigkeit als «Super-Recognizer» bewusst wahrgenommen. «Mit der Zeit wollten meine Arbeitskollegen nicht mehr mit mir auf Fahndung gehen», erinnert sich Albisser. Auf Streife habe er in der Stadt Luzern jedes Mal mindestens ein gesuchtes Gesicht erkannt, oft auch mehr. «Es kam nicht selten vor, dass dadurch der Feierabend zu kurz kam. Dank meiner Fähigkeit habe ich uns einen Berg von Arbeit aufgehalst.»
Vor allem an eine Geschichte kann sich der 44-Jährige aus Nottwil genau erinnern. Beim gemeinsamen Mittagessen mit einem Arbeitskollegen in einer Dönerbude habe er eine Frau mit Kinderwagen vorbeilaufen gesehen. «Ich wusste sofort: Die wird gesucht. Ich erkannte sie von einem Überwachungsvideo, auf dem sie vor vielen Jahren einen Bankomaten ausraubte. Mein Kollege meinte, ich spinne.» Albisser sei der Frau nachgeeilt und habe sie befragt. Sie habe direkt gestanden.
«Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Frau nach ihrem Einzeldelikt erwischt worden wäre, lag fast bei null.» Am Abend habe Albisser sogar einen Anruf ihres Mannes erhalten. Dieser fragte ihn, wie es möglich war, dass er dessen Frau Jahre später erkannt habe. «Ich antwortete ihm, dass ich selber nicht wisse, wie das funktioniert. Seine Frau war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.»
Hilfreich im Beruf?
Als «Super-Recognizer» war Albisser bei Vermögensdelikten auch national und international gefragt gewesen. Mithilfe von Fahndungsfotos identifizierte er x Straftäter und konnte diverse Fälle europaweit zusammenführen. «Ich scanne die Gesichter und speichere sie in meinem Gehirn. Es ist, als würde ständig ein Computer in meinem Kopf laufen.» Eine dauerhafte Belastung für den 44-Jährigen.
Aus diesem Grund gab er Anfang 2020 seinen Beruf als Kriminalist auf, machte sich selbstständig und gründete die Firma AlFa Prävention GmbH. Basierend auf seinen Erfahrungen als Polizist organisiert Albisser Trainings, Coachings, Schulungen und Workshops für Firmen, Ämter und Dritte. Dabei behandelt er in Zusammenarbeit mit der Sapia GmbH (Institution für Medienpsychologie) und dem Schweizerischen Institut für Gewaltprävention (SIG) verschiedene Präventionsangebote für Kinder und Jugendliche, aber auch ältere Leute.
Mit Zahlen ist es anders
Noch heute möchte Albissers Frau nicht mit ihrem Mann in der Stadt Luzern spazieren gehen. «Ich erkenne einfach immer jemanden von früher. Das kann ganz schön belastend sein.» Deswegen lüftet der Vater von zwei Kindern seinen Kopf regelmässig beim Joggen oder Biken. Auch der Berufswechsel tat ihm gut. «Ich fühle mich heute viel freier.» Zu Albissers Bedauern bringe seine Fähigkeit jedoch nicht mit sich, dass er sich Geburtstage besser merken kann. «Darin bin ich wirklich eine absolute Niete», sagt er und lacht.