Historiker Kai Michel nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er über den Krieg spricht. Warum Menschen überhaupt Krieg führen und weshalb dies keine erdgeschichtliche Normalität ist, zeigt er zusammen mit dem Archäologen Harald Meller und dem Evolutionsbiologen Carel van Schaik im Buch «Die Evolution der Gewalt» fundiert und einprägsam auf.
Schwierige Weltlage
«Momentan herrscht tatsächlich eine grosse Ratlosigkeit bezüglich der aktuellen Weltlage», führt Michel im Interview mit dieser Zeitung aus. «Der alte Gedanke, Menschen seien von Natur aus kriegerisch, Krieg stecke uns einfach in den Genen, wird wieder vermehrt vorgebracht.»
Dabei, so Michel, zeige der Blick in die Erdgeschichte, dass wir in sage und schreibe 99 Prozent jener Zeit, in der wir Menschen auf der Erde sind, ohne Krieg ausgekommen seien. «Das besagt doch eindeutig, dass wir nicht zum Krieg verdammt sind! Krieg ist so besehen eine sehr junge Erfindung.»
Die Zahl von Kriegen zu vermeiden ist indes keine leichte Aufgabe, denn, wie Michel erläutert, «deklarieren alle Kriegführenden dieser Welt ihren Krieg stets als präventiv. Das will heissen, wenn ich nicht angreife, wird es der andere ohnehin tun»; es gelte demnach, der als feindlich eingestuften Macht zuvorzukommen. «Dabei brandmarkt die Charta der Vereinten Nationen jeglichen Angriffskrieg als illegal. Auch gesteht sie dem angegriffenen Land das Recht auf Verteidigung zu. Dieses Recht bleibt der Ukraine natürlich unbenommen.»
Mehr Schweiz auf dem Erdball
Daher seien wir in einem gedanklichen Teufelskreis gefangen, mehr Panzer, mehr Waffen und mehr Bunker zu bauen, um uns vor allfälligen Angriffen zu schützen. «Wir müssen wirklich aufwachen», befeuert Michel den Wunsch nach mehr Frieden auf der Welt. Leider könnten wir, angesichts den momentan an vielen Schauplätzen der Erde geführten blutigen Waffengänge, schon dem Eindruck verfallen, «wir schlittern erneut in ein Jahrhundert der Kriege hinein.»
Diese Vorstellung werde gestützt durch das Comeback des Neo-Imperialismus, des Neo-Despotismus, den Vormarsch autoritärer Regime generell und dem politischen Rechtsrutsch in Europa. Die vermeintliche Unvermeidbarkeit von Kriegen sei indes «die Strategie alter Männer, das muss man einfach mal auf den Punkt bringen». Demokratiestärkung sei daher das optimale Gegenrezept, um Gewaltbereitschaft zu verringern.
Plakativ meint er dazu: «Wir müssen mehr Schweiz in die Welt bringen. Hier ist es doch undenkbar, dass plötzlich wieder ein Autokrat die Macht und die ganze Befehlsgewalt an sich reissen würde.» Natürlich werde nicht die «ganze Welt plötzlich friedlich sein, aber wir sollten dringend die Zahl von Kriegen reduzieren».
Dass Menschen durchaus zu nachhaltigen Verbesserungen fähig sind, zeigt, so Michel, die Frage der Sklaverei. «Vor 150 bis 200 Jahren erschien ja die Sklaverei als komplett selbstverständlich; weite Teile der Weltwirtschaft beruhten auf Sklaverei, auch in der kriegsgeborenen Variante. Gleichwohl haben wir sie weitgehend abgeschafft und geächtet.»
Die Abendveranstaltung verspricht demnach spannend zu werden, zum Nachdenken anstachelnd. Sie beinhaltet auch die Einbindung des Publikums; die Referenten möchten mit den Zuhörerinnen und Zuhörern einen Dialog aufbauen und auf Fragen und Überlegungen eingehen.