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Sempach

Alleine kommt man eben nicht weit

Geri Wyss 27. Dezember 2018

Über 16 Jahre hat Jürg Hottiger als Betriebsleiter der Seevogtey die soziale Institution mitgetragen und massgeblich geprägt. Im kommenden März tritt er seine Pension an und verlässt die Seevogtey mit einem lachenden, aber auch einem weinenden Auge.

Die existenzielle Sicherung der Institution für mindestens fünf Jahre. So lautete Jürg Hottigers Hauptauftrag im Herbst 2002, als er die kurz zuvor neu geschaffene Stelle als Betriebsleiter des Mütter- und Kinderhauses Seevogtey in Sempach antrat. Mit dieser offenkundigen Prämisse sei, zugegebenermassen, auch der Druck auf seinen Schultern entsprechend gross gewesen. «Ich wusste bereits ein bisschen etwas über die Seevogtey, bevor ich dort offiziell zu arbeiten angefangen hatte. Ich hatte ein Bild einer konturenlosen Institution im Kopf, effektiv wusste ich jedoch wenig darüber und liess mich auf das Experiment ein. Die Rahmenbedingungen hatten mich gereizt», rekapituliert der aus dem Zürichbiet stammende Jürg Hottiger. Der ausgebildete Sozialpädagoge und Mediator arbeitete zuvor 17 Jahre lang in Kriens, wo er ein Tagesheim für Kinder von Alleinerziehenden mitaufgebaut hatte. Eine Pioniergeschichte, so der 65-Jährige: «Anfang der 80er-Jahren war die Lebens- und Erziehungsform eines alleinerziehenden Elternteils stark stigmatisiert gewesen und man musste für deren Wahrnehmung sowie Anerkennung kämpfen.» In dieser Zeit habe er viel über verschiedene Werte, verschiedene Leute und Interessensvertreter gelernt. Er habe verstanden, dass es gilt, all diese miteinander zu verbinden, um etwas Grosses aufbauen und erreichen zu können. «Dieser Erfahrungsschatz hat mich definitiv bereichert und mir auch für meine nachfolgende Aufgabe als Betriebsleiter der Seevogtey geholfen», meint Hottiger.

Miteinander statt Gegeneinander
Aus fünf wurden fast 17 Jahre – er scheint also alles richtig gemacht zu haben. Trotzdem seien besonders die ersten zwei Jahre harzig gewesen. «Der Vorstand erkannte, dass das Schaffen einer entgeltlichen Betriebsleitungsstelle notwendig war, um die Seevogtey erfolgreich weiterzuführen. Ich, als Nicht-Sempacher und städtisch Aufgewachsener, musste mich in meiner neuen  Rolle in einer christlich geprägten Institution erst einmal einfinden», erzählt Jürg Hottiger. Er sei sehr willkommen gewesen, sowohl beim Vorstand als auch bei den Mitarbeitenden. Nichtsdestotrotz seien Uneinigkeiten in Bezug auf die Werte oder das Hierarchieverständnis spürbar gewesen und nicht jeder sei schlussendlich bereit gewesen, mitzuziehen. «Einige vertraten die Meinung, es brauche, besonders in schwierigen Situationen, klare Strukturen und ein deutliches hierarchisches System. Da war und bin ich auch heute noch grundsätzlich gegenteiliger Meinung: Gerade wenns schwierig wird, braucht es eine flache Hierarchie und ein klares Mitei-nander.»
Auch, dass die Sempacher Bevölkerung, Leute auf der Strasse und in der Nachbarschaft, ihm zu Beginn eher wenig Kredit gaben, steckte Jürg Hottiger souverän weg. «Weil ich dafür absolut Verständnis hatte. Nachdem der Verein 1997 gegründet wurde und man den Betrieb von unseren Vorgängerinnen, den Schwestern des Seraphischen Liebeswerkes, übernommen hatte, gab es sehr viele personelle Wechsel. Die Kontinuität hatte gefehlt. Verständlich also, dass man sich den Respekt und die Wertschätzung erst einmal verdienen musste, indem man an etwas glaubt, sich dafür einsetzt und dafür kämpft.» Und gekämpft hat Jürg Hottiger mit viel Überzeugung, klaren Visionen und grossem Engagement seit seiner ersten Amtshandlung bei der Seevogtey – ja sogar vor seinem Stellenantritt, hatte er sich damals doch auch von einem explizit für eine Frau ausgeschriebenen Stelleninserat nicht abschrecken lassen. «’Wenn einer nicht mal richtig lesen kann, wie soll er denn einen Betrieb leiten können?’, werden die sich damals sicherlich gedacht haben», sagt Hottiger, schmunzelnd.

«Catch me if you can»-Moment
Rückblickend gäbe es viele schöne und prägende Momente. Zu den grössten  Meilensteinen zählen für Jürg Hottiger einerseits die Integration der Tagesfamilien als gleichwertiges Angebot (nebst dem Mütter- und Kinderhaus), aber auch die Wahrnehmung und Anerkennung als regionaler Ansprechpartner für familien- und später auch schulergänzende Tagesstrukturangebote ordnet er dieser Kategorie zu. «Mit diesem Punkt hängt auch die Namensgebung des Vereins zusammen. Ursprünglich trug er den Namen ‘Verein Seevogtey Sempach’, später hat man das ‘Sempach’ eliminiert und zwar ganz bewusst, um sich auf die gesamte Region zu öffnen», erklärt der Familienvater. Vor allem, dass man mit den fünf Gemeinden Sempach, Eich, Hildisrieden, Nottwil und Neuenkirch
Leistungsvereinbarungen im Bereich familienergänzende Kinderbetreuung abschliessen konnte, sei ein für die Seevogtey wichtiger Schritt gewesen.
Doch bleiben auch ein paar schwierige Momente in Jürg Hottigers Gedächtnis haften. Ein ganz konkretes Ereignis hat er zu seinem ganz persönlichen «Catch me if you can»-Moment erkoren: «Als ich eines Tages ein aufreibendes Gespräch mit zwei Mitarbeitenden und einem Vorstandsmitglied führte, fuhr ich im Anschluss – nachmittags um 15 Uhr – ins Kino nach Luzern und schaute mir ganz alleine und ohne Mitwissen Anderer den Film ’Catch me if you can’ mit Leonardo DiCaprio und Tom Hanks an, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Ich hab mich dann selbst gefragt, ob ich nun ein miserabler oder genialer Betriebsleiter sei … Jedenfalls konnte ich am nächsten Tag die Wogen wieder grösstenteils glätten.»

Alleine kommt man nicht weit
Der Zeitgeist sei stets ein Verbündeter der Seevogtey gewesen. Man habe früh realisiert, dass man mit den Veränderungen der Zeit mitziehen müsse, um als soziale Institution dieser Form bestehen zu können. Der finanzielle Aspekt habe dabei immer eine Rolle gespielt, jedoch habe er Jürg Hottiger nie grosse Sorgen bereitet. «Die finanzielle Situation hier bei der Seevogtey ist eine einmalige. Es ist unglaublich schön zu sehen, wie wir von den unterschiedlichsten Leuten, die an uns und unsere Sache glauben,  immer wieder grosszügig unterstützt und mitgetragen werden. Auch wenn die Finanzen stets präsent waren, haben sie mir nie Angst gemacht – im Gegenteil: Ich habe sie als Ansporn gesehen. Sie haben mich in meiner Überzeugung von einem Miteinander stets bekräftigt», so Hottiger, der sich selbst in seiner Funktion als Betriebsleiter als ein Mix aus Impulsgeber, Coach und Gesicht gegen aussen sieht. Doch alleine wäre er nicht weit gekommen, was er nicht zu oft betonen könne. Auch auf Rückmeldungen und Verständnis der Nachbarn sei man bei der Seevogtey angewiesen. «Wenn wir von Nachbarn hören, es sei schade, wenn eine Bewohnerin das Mütterhaus verlässt, dann ist das für uns ein Kompliment, denn dann hat sie es geschafft, alleine klarzukommen und für sich und Ordnung zu sorgen. Dies ist ein Lernprozess, bei dem unsere Nachbarschaft mit entsprechenden Rückmeldungen und Beobachtungen massgeblich involviert ist.»

Schlüsselübergabe im März
Ende März übergibt Jürg Hottiger den Betriebsleitungsposten an die Luzerner Sozialpädagogin und Krankenschwester Julia Rossmann und somit den Schlüssel des Mütter- und Kinderhauses Seevogtey offiziell ab. Mit Julia Rossmann habe man eine qualifizierte Nachfolgerin gefunden, die kontinuierlich und punktuell an ihre neue He-rausforderung und ihr vielseitiges Aufgabengebiet herangeführt werde. Seiner Nachfolgerin wünscht Jürg Hottiger, dass sie dieselbe Wertschätzung und Unterstützung von rundherum erfahren darf, wie er es durfte. «Und dass sie sich stets treu bleibt und nicht entmutigen lässt, wenns mal nicht auf Anhieb rund läuft», ergänzt Hottiger. Für die See-vogtey wünscht sich der abtretende Betriebsleiter, dass sie auch in Zukunft Wege findet, sich neu zu entwickeln und dass sie sich den Bedürfnissen der Zeit anpassen kann. «Ich bin sehr zuversichtlich, dass ihr das auch weiterhin gelingt. Sorgsamkeit, Respekt und Motivation sind keine Selbstläufer. Solche Werte muss man pflegen – nicht alleine, sondern miteinander. Das hat die Seevogtey gelernt, das kann sie.»
Und wie geht es jetzt für Jürg Hottiger weiter ab März 2019? Erst einmal werde er sich, gemeinsam mit seiner Frau, eine Auszeit gönnen und die Welt bereisen. Das Teilzeitpensum als Lehrkraft an der höheren Fachschule für Sozialpädagogik in Luzern, das er sich vor vielen Jahren zugelegt hatte, werde er auch in Zukunft beibehalten. «Das ist etwas, das ich gerne mache. Zudem glaube ich, dass ich dadurch auch keinen kompletten und abrupten Szenenwechsel erleben werde.» Zudem freue er sich darauf, wieder mehr Zeit für seine Familie, seine Kinder und seine Grosskinder zu haben. Auch das Austesten kleiner Projekte, wie beispielsweise das Mitwirken in einem Jazzchor, könne er sich gut vorstellen. «Mit Lücken im Terminkalender kann ich bestens umgehen und ich kann auch gut loslassen. Wenn man mich braucht, werde ich zur Stelle sein, gönne Julia Rossmann aber auch den Gestaltungsfreiraum, den ich stets geniessen durfte. Da braucht es niemanden, der monatliche Besuche abstattet und reinquatscht», schliesst Jürg Hottiger.

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