Reto Mitteregger, wie hat sich die Nutzung von Social Media für politische Anliegen in den letzten zehn Jahren verändert?
In den letzten Jahren haben sich auf Social Media verschiedene Monopolstellungen herausgearbeitet, parallel zu einer generellen Medienkonzentration in vielen Orten. Plattformen wie Twitter und Facebook gewannen stark an Popularität und sind in ihrer Reichweite gewachsen. Doch der Einfluss der Social-Media-Plattformen auf die Meinungsbildung wird dennoch oft überschätzt. Die Selects-Wahlstudie aus dem Jahr 2019 zeigte auf, dass die sozialen Medien zumindest in der Schweiz nicht die zentralen Quellen für die Meinungsbildung der Bevölkerung sind, sondern uns eher in unseren politischen Ansichten bestärken. Bildungsgrad, Alter, Herkunft, Einkommen und Geschlecht eines Individuums sind Faktoren, die weiterhin ausschlaggebender für die Meinungsbildung sind. Relevant sind etwa die klassischen Medien wie TV, Zeitungen oder Radio.
Wie angeregt nutzen Schweizer Politiker und Politikerinnen solche Plattformen?
Eine parallel durchgeführte Medienstudie zeigte, dass immer mehr Politiker und Politikerinnen auf Social Media präsent sind. In jeder Partei der Schweiz waren 2019 etwa zwei Drittel der Nationalratskandidaten auf Facebook oder Twitter vertreten. Erhöht wird die Wahlchance dadurch aber nicht automatisch. Ein Beispiel dafür ist der ehemalige SVP-Nationalrat Claudio Zanetti, der auf Twitter stark aktiv war und 2019 die Wiederwahl in den Nationalrat interessanterweise dennoch nicht geschafft hat.
Wie schätzen Sie die Sperrung von Trumps Twitter-Account durch Twitter ein?
Ein Grundrecht der Demokratie ist das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dieses Recht schliesst jedoch nicht mit ein, dass auch jeder Meinung eine Plattform gegeben werden muss. Eine demokratische Gesellschaft entscheidet grundsätzlich mit Debatten und Gesetzen, welche Regeln hier gelten. Bei privaten Unternehmen sind es hierbei die «Richtlinien»: Twitter als privates Unternehmen kann also frei entscheiden, wer sich auf seiner Plattform äussern darf und wer nicht. Trump wurde zwar mit Twitter das – aus seiner Sicht – wichtigste Mittel zur Kommunikation mit der Öffentlichkeit entzogen, das Recht auf freie Meinungsäusserung jedoch nicht.
Warum erfolgte die Sperrung so «spät»?
Für Twitter war der Zeitpunkt der Sperrung natürlich ein bequemer: Es ging gegen das Ende von Trumps Präsidentschaft zu, eine Zeit, in der er an Rückhalt verlor. Ausserdem war die nationale und internationale Empörungswelle nach den Vorfällen rund um die Erstürmung des Kapitols gross. Das Zeichen, dass der Konzern ein gewichtiger politischer Player ist und eingreifen kann, kam für viele dennoch unerwartet. Es ist aber aus demokratischer Sicht grundsätzlich zu begrüssen, dass verschiedene Kurznachrichtendienste nicht jeder extremistischen Stimme eine Plattform bieten. Die Diskussion hierüber ist aber weiterhin umstritten. Dazu gibt es auch ein Beispiel aus der Schweiz: Letztes Wochenende wurde der Zürcher SVP-Kantonsrat Claudio Schmid von Twitter gesperrt. Der Vorfall löste – ironischerweise auf Twitter selber – eine kontroverse Debatte über Sinn und Unsinn von solchen Aktionen aus.
Inwiefern ist die Demokratie durch die Macht von Grosskonzernen wie Twitter oder Facebook gefährdet?
Twitter ist ein privates Unternehmen und kann sich als Quasi-Monopolist der demokratischen Kontrolle relativ einfach entziehen. Der profitorientierte Konzern hat das Recht, von seiner Plattform zu verbannen, wen er möchte. So kann er entscheiden, wer am öffentlichen Diskurs teilnehmen darf und wer eben nicht. Das ist aus demokratischer Sicht durchaus kritisch zu sehen, wenn diese Entscheidung von einer nicht demokratisch legitimierten Stelle getroffen wird. Kritisch ist dies auch deswegen, weil oft keine klaren Regeln für dieses Vorgehen existieren.
Könnte Trumps Sperrung ein gespaltenes Netz hinterlassen?
Ja, durchaus. Mit Donald Trump hat die ehemals mächtigste Person der Welt ihr wichtigstes Kommunikationsmittel verloren. Es ist klar, dass er und seine republikanischen Anhänger nun auf anderen Plattformen sich zu äussern versuchen werden. Man kann solche Entwicklungen schon in gewissen Gruppen wie zum Beispiel Telegram, wo sich auch Verschwörungsideologen austauschen, antreffen. Solche Netzwerke verbreiten sich wie Pilze und radikalisieren sich oft. Aber was ihnen häufig fehlt, ist die Möglichkeit, die breite Masse auf einer grossen Kommunikationsplattform anzusprechen. Was in diesen kleinen, abgeschlossen Chaträumen passiert, ist für die Meinung der Bevölkerung oft weniger prägend.
Lassen sich extremistische Stimmen gänzlich aus den sozialen Medien verbannen?
Nein, das ist fast nicht möglich. Extremistische Stimmen kann man zwar verdrängen, aber nur schwer zerschlagen. Ausserdem liegen die Probleme oft nicht nur bei Social Media. Donald Trump kann als Musterbeispiel für die fortschreitende Untergrabung einer liberalen Demokratie angesehen werden. Dies ist bedenklich und zeigt die Instabilität der US-amerikanischen Demokratie im 21. Jahrhundert auf. Trumps Twitter-Verbannung löst die Spaltung und die Gewalt in den USA kurzfristig wohl kaum, kann langfristig aber vielleicht dazu beitragen, dass sich die Mehrheit wieder auf den Konsens der demokratischen Grundregeln besinnt und das Wahlergebnis akzeptiert. Es ist aber schwierig, jetzt schon genaue Aussagen darüber zu tätigen. Insbesondere deshalb, weil die Entwicklung der sozialen Medien oft unvorhersehbar, wenig kontrolliert und schnell erfolgt – was sie von den «klassischen» Medien unterscheidet. Zu hoffen bleibt aber, dass der Diskurs sich mehr an demokratischen «Spielregeln» orientiert – online und offline.
Zur Person
Der 26-jährige Sempacher Reto Mitteregger schloss letzten Sommer seinen Master in Politikwissenschaften an der Universität Zürich ab. Während des Studiums war er an der Uni als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Lehrstühlen tätig und setzte seinen Fokus auf Wahlforschung, politische Sozialisierung und den Wandel der Parteienlandschaft in post-indus-triellen Gesellschaften. Seit Januar doktoriert er an der Universität Zürich zur Frage, inwiefern generationelle Unterschiede politisches Verhalten beeinflussen.