Nora Stalder spielt mit «Ranja» im Rasen vor dem Wohnhaus in Sempach. Der junge Labrador trägt eine gelbe Weste mit der Aufschrift «Assistenzhund». Der schwarze Hund dreht sich im Kreis, steht auf die Hinterpfoten, fixiert die 15-Jährige mit seinem Blick. Nur dieser seltsame Gast nebenan mit dem Fotoapparat entlockt «Ranja» ein leises Knurren, das Nora Stalder aber sofort mit einer klaren Anweisung unterbindet.
Es war im Herbst 2017, als die damals 13-jährige Nora Stalder den ersten Anfall erlitt. Dieser blieb dem Umfeld noch verborgen, der zweite Anfall in den Ferien in einem Hotelzimmer in der Ostschweiz bekam dann die ganze Familie von Guido Stalder und Mary Sidler Stalder in aller Deutlichkeit mit. Am Ende der folgenden Hospitalisierung war klar: Nora Stalder hat Epilepsie. Es folgten Versuche einer genaueren diagnostischen Ursachenforschung und medikamentöse Therapien, die allesamt scheiterten. Beinahe wöchentlich wurde Nora Stalder von der Epilepsie gebeutelt, sodass sie kaum mehr spontane Unternehmen wagte und auch immer Medikamente griffbereit haben musste. Sie hatte sogar Angst, alleine zuhause zu bleiben und in vielen ruhelosen Nächten wagte sie nicht mehr einzuschlafen, weil sie sich vor einem nächsten Anfall fürchtete. Aber auch das Leben der Angehörigen änderte sich durchgreifend: «Es war ein Schock für uns», erzählt Mary Sidler. Manchmal habe sie kaum schlafen können, sei bei jedem kleinsten Geräusch aus Noras Zimmer aufgeschreckt und sofort zu ihr geeilt. «Ich habe Nächte auch gleich in ihrem Zimmer verbracht.»
Das Interesse kam schnell
«Zudem hatte ich bei einem Antiepileptikum eine sehr starke allergische Reaktion mit zweiwöchigem Krankenhausaufenthalt erlitten», erzählt Nora Stalder. Das niederschmetternde Fazit: Sie war therapieresistent – keine Medikamente konnten helfen. Noras Schwester Lea Stalder hatte nach Recherchen im Internet vom Verein EpiDogs for Kids erfahren, welcher Epilepsie-Begleithunde vermittelt. Nora Stalder hat das Heft dann gleich selbst in die Hand genommen und den Verein kontaktiert. Die Epilepsie-Begleithunde brachten neue Hoffnung in das Leben der Familie Stalder. Nach Besuchen bei der Züchterin Manuela van Schewick im Deutschen Meckenheim bei Bonn war klar: Nora Stalder darf auf die Unterstützung des Assistenzhundes «Ranja» – was in syrischem Arabisch «kleine Prinzessin» heisst – hoffen. «Als ich die Welpen eines frischen Wurfes besuchte, stellte sich schnell heraus, dass ‘Ranja’ die Nähe zu mir suchte und sogar bei mir schlief», erzählt Nora Stalder von ihrem Besuchswochenende in Deutschland.
Feinfühlige Hunde
Auch die Züchterin Manuela van Schewick bestätigt, dass Nora Stalder und «Ranja» von Beginn weg besonderes Interesse aneinander signalisiert hätten. «Es war schnell klar, dass die Weichen für ein gemeinsames Leben gestellt waren.» Van Schewick erklärt, dass die Hunde mit ihren Sinnen wesentlich früher als Menschen Signale wahrnehmen können. «Unmittelbar vor und während eines Anfalls gibt es stoffwechselbedingte Veränderung im Geruch des Menschen. Die Hunde registrieren aber auch Veränderungen der Frequenz des Herzens, der Muskeln und der Atmung sowie der Atemtiefe.» Ein Hund erkenne einen Menchen genau so, wie er sei, egal, welche Schwächen und Handicaps er habe. Damit das Zusammenleben funktioniere, müsse der Mensch «sehr viel lernen, insbesondere über die soziale Kommunikation und Körpersprache des Hundes». Es gelte, den Hund genau zu beobachten und sein Verhalten richtig zu deuten, was ein intensives Training bedinge. «Nora Stalder und ihre Familie leistet hier etwas ganz Besonderes.»
Aufmerksame Arbeit mit «Ranja»
Seit Weihnachten 2018 hält «Ranja» die Familie Stalder und insbesondere Nora auf Trab. Da war nun ein junger, lebhafter Hund, der einerseits gut erzogen werden musste. Anderseits galt es aber auch, «einander richtig zu lesen», wie Nora Stalder sagt. Wann waren auffällige Verhaltensweisen von «Ranja» lediglich pubertäre Hundeflausen? Wann zeigte der Labrador Retriever etwas an, was relevant für Nora Stalders Erkrankung war? Die Sempacherin nennt ein Beispiel. «Bald merkte ich, dass ‘Ranja’ rund drei Tage vor einem Anfall nicht mehr in meinem Zimmer schlafen wollte.» Das war unüblich, konnte doch gerade die Anwesenheit der Hündin im Schlafzimmer Sicherheit und Ruhe vermitteln. Sobald dann der epileptische Anfall kam, alarmierte «Ranja» andere Familienmitglieder und eilte sofort zu Nora Stalder, leckte ihr in erster Linie das Gesicht und konnte so auch mehrmals einen Anfall im Anfangsstadium unterbinden.
Das Hirn fasten lassen
Um die Epilepsie besser im Griff zu haben, hält sich Nora Stalder seit einiger Zeit an eine spezielle Form der ketogenen Diät. Es gilt bei dieser einschneidenden, umgestellten Ernährung, stets penibel darauf zu achten, dass bei jeder Mahlzeit doppelt so viel Fett als Kohlenhydrate und Proteine zusammen eingenommen wird. Und pro Mahlzeit dürfen es nicht mehr als 3,3 Gramm Kohlenhydrate sein. «Nur schon mit einem Schnitz Apfel hat man diese Menge erreicht», legt Mary Sidler dar, wie wenig es leiden mag. Die Idee der Diät sei es, das Gehirn quasi auszuhungern und einen fastenartigen Zustand aufrechtzuerhalten. Erfahrungen zeigen, dass diese Diät Epilepsie mildern kann. Zudem nimmt Nora Stalder gegenwärtig noch ein schwach dosiertes Antiepileptikum ein, welches bisher noch keine allergischen Reaktionen verursacht. «Ich bin seit drei Monaten frei von Anfällen», sagt Nora Stalder und lacht. «Ranja» hat daran einen erheblichen Anteil und zusammen mit den anderen Massnahmen neue Wege im Umgang mit der Epilepsie aufgezeigt.
Nutzen überwiegt grosse Arbeit
«Die Erkrankung, die Diät und die damit verbundene Arbeit mit dem Hund fordern die Familie schon stark he-raus», hält Mary Sidler fest. «Doch der Hund bringt eine markante Erleichterung. Es gilt immer abzuwägen. Der Nutzen überwiegt letztlich klar.» Auch für Nora Stalder war «Ranja» ein Geschenk. «Sie spürt unglaublich viel. Ich weiss nun, dass ein nächster Anfall nicht mehr allzu weit ist, wenn ‘Ranja’ nicht mehr neben mir schläft. Deshalb kann ich die ganze restliche Zeit beruhigt Dinge unternehmen und auch sorglos alleine zuhause sein.» Sie setzt alles daran, dass sie die Signale des Hundes noch besser interpretieren kann und hofft, dass «Ranja» einen drohenden Anfall künftig in noch viel kürzerem Abstand signalisiert. Die Gewissheit, dass der Labrador immer für sie da ist, sollte sie wegen der Epilepsie die Kontrolle über ihren Körper verliert, hat sie nun. Hunde wie «Ranja» werden im Schnitt etwa 15 Jahre alt. In etwa zwei Jahren ist die Hündin erwachsen. Dann kann sie Nora Stalder fixfertig ausgebildet noch viele Jahre erfreuen und in ihrer Krankheit beistehen.