Ein Tag im September. Am Himmel über Sempach ziehen Vogelschwärme Richtung Süden. Es ist aber auch ein weiterer Tag, an dem Lukas Jenni sein Büro räumt. Mitte Jahr hatte der gebürtige Basler seine fast 41-jährige Karriere bei der Vogelwarte beendet und war in Pension gegangen. Angefangen als Leiter der Beringungszentrale, war er im Jahre 2000 zum wissenschaftlichen Leiter geworden. 2008 hatte er zudem den Vorsitz der Institutsleitung übernommen, der neben ihm noch Barbara Trösch als Betriebsleiterin und Matthias Kestenholz als Leiter Marketing und Öffentlichkeitsarbeit angehören. Neuer wissenschaftlicher Leiter der Vogelwarte ist Jennis bisheriger Stellvertreter, Gilberto Pasinelli.
Zuerst war das Team klein
«Ich bin eher der Sammlertyp», sagt Lukas Jenni darauf angesprochen, ob er nun viel aufzuräumen habe im Büro. Mehr als 150 Bundesordner sind es geworden. Das Meiste hat er nun in Ordnung gebracht und weitergeben können. «Doch man muss schon nicht so viel aufbewahren, wie ich es getan hatte», ergänzt Jenni mit einem Schmunzeln. Der 65-Jährige wirkt entspannt und berichtet bescheiden von seiner Zeit an der Vogelwarte, obwohl er als einer der renommiertesten Ornithologen Europas gilt. Und er hat die Vogelwarte massgeblich geprägt, die, als er 1979 in Sempach angefangen hatte, noch aus weniger als 20 Leuten bestanden hatte. «Wir haben unsere Besprechungen am Kaffeetisch abhalten können», blickt Jenni zurück. Mehr als 40 Jahre später arbeiten rund 140 Personen an der Vogelwarte, die Studenten und Praktikantinnen noch nicht mitgezählt. Und aus den wenigen Generalisten von damals sind bis heute viele Spezialisten geworden.
Den Beruf gelebt
Die Vogelwarte ist in den Gebieten Monitoring, Untersuchungen von Lebensräumen und Ansprüchen von Vögeln sowie Erforschung des Vogelzugs tätig und findet Lösungen bei Konflikten zwischen Vogel und Mensch. Die meisten Projekte initiiert sie selber, nimmt aber auch Arbeiten aufgrund von Aufträgen an, etwa, wenn es darum geht, Gutachten zu erstellen. Im Gespräch merkt man schnell, wie viel Lukas Jenni die nun beendete Arbeit an der Vogelwarte bedeutet und wie sehr sie ihn bewegt hat. Sein Beruf sei mehr Berufung gewesen, sagt er. So ergründete er, warum viele Brutvogelbestände in der Schweiz im Kulturlandbereich stark rückläufig sind. «Seit den 60er- und 70er-Jahren ist die Landwirtschaft stetig intensiviert worden», nennt er den Hauptgrund. Viele Arten, welche sich eigentlich in den bewirtschafteten Flächen der Menschen heimisch fühlten, seien infolge häufiger Mahden, Monokulturbetriebs, des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und der starken Düngung verschwunden. Auch in den Alpengebieten habe der Druck weiter zugenommen.
Einöde vertreibt Vögel
Die Agrarpolitik mit ihren Subventionen ziele auch heute noch hauptsächlich in Richtung Intensivierung und erhöhter Produktivität. Doch das Gegenteil würde der Vogelwelt guttun, ist Lukas Jenni überzeugt. Vielfältigere und abwechslungsreichere Kulturlandschaften mit genügend Rückzugs- und Brutmöglichkeiten für die Vögel zögen eine höhere Biodiversität und somit auch ein grösseres Nahrungsangebot für die Vögel nach sich. «Wir konnten in mehreren Gebieten nachweisen, dass Vogelpopulationen wieder in solche Landschaften zurückkamen und sich erholten, unter anderem im Wauwilermoos», hält Jenni fest. Das müsse aber keineswegs heissen, dass gewisse Flächen nicht gleichwohl intensiv bewirtschaftet werden könnten. «Es muss einfach in der Nähe Ausgleichsflächen haben, welche die Biodiversität fördern.»
Punktesystem für Bauern
Die Vogelwarte habe es aber auch geschafft, mit der Landwirtschaft und weiteren Akteuren Verbesserungen für die Vögel zu erreichen. So berät die Vogelwarte beispielsweise die Migros und die Vereinigung IP-Suisse, welche eine umweltschonende und tiergerechte Landwirtschaft bezweckt, bei der Weiterentwicklung des Biodiversitätslabels «TerraSuisse». Die Sempacher Vogelfachleute entwickelten dabei zusammen mitdem Forschungsinstitut für biologischen Landbau ein «Punktesystem Biodiversität», welches die Leistungen der Landwirte für mehr Biodiversität bewertet. «Ein schöner Erfolg», wie Jenni sagt. Gehe es um politische Aussagen zugunsten der Vögel, hält sich das Sempacher Institut jedoch zurück. Wohl wird die Vogelwarte im Rahmen von Vernehmlassungen angehört, doch «die Politik überlassen wir Naturschutzorganisationen und NGOs. Wir sind ein Fachinstitut.»
Marathonvögel mit Spürsinn
Spannendes weiss Lukas Jenni aus der Erforschung der Zugvögel zu berichten. Die Tiere wissen von Geburt an, wo sich ihre Winterquartiere befinden. Die Vogelwarte ging unter anderem der Frage nach, wie sie grosse Hindernisse wie die Alpen, das Mittelmeer und die Sahara passieren. Dabei zeigte sich Überraschendes, etwa, dass Zugvögel sich den Windverhältnissen anpassen. Bei starkem Gegenwind warten sie, bis sich die Situation bessert. Bei Westwind werden die Tiere abgedrängt Richtung Alpen. «Dann überqueren sie eher die Alpenpässe. Bei ruhigem Wetter fliegen sie eher im Raum Genf gegen Süden», sagt Lukas Jenni. Grundsätzlich liessen sich die Vögel lieber abdriften, um gleichwohl besser vorwärtszukommen. «Sie korrigieren den Weg später wieder.»
Auch bemerkenswert bei vielen Arten ist, dass sie die Sahara ohne Nahrungsaufnahme durchqueren. «Sie fliegen nachts, während sie tagsüber schattige Orte aufsuchen und sich ausruhen», weiss Jenni. Klar ist, dass Zugvögel grosse Hindernisse wie das Mittelmeer oder die Wüste nur mit genügend Reserven hinter sich lassen können. «Wir konnten mit unseren Untersuchungen aufzeigen, wie wichtig Rastgebiete in Südeuropa und Nordafrika sind», unterstreicht der pensionierte Leiter der Vogelwarte.
Alte Heimat vogelreicher
Hierbei hat auch seine Frau, Susi Jenni-Eiermann, wichtige Dienste geleistet. Die Vogelkundlerin war seit 1985 ebenfalls an der Vogelwarte tätig, und sie wurde am gleichen Tag pensioniert wie er. Jenni-Eiermann hat unter anderem den optimierten Stoffwechsel von Zugvögeln beleuchtet. «Der Raum Sempachersee ist eine liebliche Landschaft», sagt Lukas Jenni. Doch der Eindruck mag täuschen, denn die hiesige Vogelvielfalt ist nicht gerade artenreich. «Anders sieht es im Umland von Basel aus. Im nahen Jura, dem Elsass und dem badischen Raum existieren Lebensräume mit einer viel grösseren Biodiversität», nennt Jenni einen auf den ersten Blick erstaunlichen Fakt.
Neuer Kanton öffnete Tür
A propos Jura: Der Gründung dieses Kantons hat Jenni auch zu verdanken, dass er Ende der 70er-Jahre von der Vogelwarte angefragt worden war. «Mein Vorgänger in der Beringungszentrale war Jurassier. Er wurde damals in die neue Kantonsverwaltung abberufen.» Zuerst wollte Jenni aber gar nicht nach Sempach kommen, weil er eine Doktorarbeit schreiben wollte. Doch man sagte ihm, das gehe schon parallel zum 50-Prozent-Pensum an der Vogelwarte. Herausgekommen ist es etwas anders. «Ich war dann 100 Prozent ausgelastet und schrieb die Dissertation abends», erzählt er lächelnd.
Nun folgt die Musse
Und wie geht es nun weiter? Kann jemand einfach so loslassen, der schon von Kindesbeinen an mit Interesse die Tierwelt verfolgt und mit dem Grossvater wöchentlich in den Basler «Zolli» gegangen war, um danach Jahrzehnte im Bereich der Vögel zu forschen? «Ich werde sicher noch das eine oder andere wissenschaftlich arbeiten», sagt Lukas Jenni, der auch noch drei Dissertationen betreut. «Ich bleibe sehr interessiert an der Vogelwelt, jetzt einfach ohne Leitungsaufgaben.» Eine gewisse Erleichterung ist herauszuspüren, dass all das Administrative und Planerische von den Schultern wegfällt. «Ich werde mehr draussen sein und Vögel beobachten können. Auch die Botanik, welche mich schon seit jeher fasziniert, rückt wieder näher.»
Viel Wissen wurde publiziert
Mit ihren Forschungsergebnissen hat sich die Vogelwarte als professionelle Stimme der Vogelwelt etabliert. Und Lukas Jenni hat viel dazu beigetragen, auch mit seinen Publikationen, die er im Team erarbeitet hat. Zu nennen sind hier beispielsweise Themenhefte wie «Vogelzug» (1988), «Biodiversität» (2005) oder «Federn machen Vögel» (2010) sowie Jennis Bücher «Moult and Ageing of European Passerines» und «The Biology of Moult in Birds», welche sich mit dem Federwechsel und der Altersbestimmung europäischer Singvögel befassen.