In der heutigen Zeit sehen sich Schulen mit verschiedensten Herausforderungen und Erwartungen konfrontiert. Um diesen gerecht zu werden, bedarf es einer differenzierten Auseinandersetzung und Angebote müssen verschiedenen Ansprüchen gerecht werden. «Das klassische Unterrichtsmodell, in welchem eine Lehrperson den ganzen Tag eine Klasse von 20 Schulkindern unterrichtet, entspricht schon lange nicht mehr der Realität», hält Jasmin Willisegger, Schulleiterin der Schule Nottwil, fest. «Der gesellschaftliche und digitale Wandel birgt immer neue Herausforderungen, auf die es als Schule zu reagieren gilt.» In diesem Spannungsfeld sei es wichtig, das «Daily business» – die Vermittlung von Lerninhalten – aufrechtzuerhalten. «In diesem Spannungsfeld liegt gerade auch das Schöne und Spannende an der Schule», betont Willisegger.
Integration vor Separation
2012 wurde das Sonderschulgesetz erlassen. Spätestens seither gilt: Kinder mit Handycap sollen integriert, nicht separiert werden. Damit einher ging eine grosse Umstrukturierung im Schweizer Schulsystem. Wo zuvor Sonderschulen verschiedene Aufgaben übernahmen, wurden diese in der Folge an die Volksschule übertragen, so Willisegger. «Einen Teil dieser Arbeiten können Lehrpersonen bewältigen – unsere Lehrpersonen sind flexibel und kompetent. Aber wenn mehr Kinder mit speziellen Bedürfnissen in einer Klasse sind, so müssen gewisse Dinge ausgelagert werden an ausgebildete Profis.» Es gibt Modelle (z. B. RTI-Modell, siehe Fussnote), die davon sprechen, dass rund 85 Prozent der Lernenden mit dem normalen Curriculum zurechtkommen. Weitere zirka zehn Prozent bräuchten Teilsonderbetreuung (z. B. DaZ, IF, Logopädie, Ergotherapie, Psychomotoriktherapie usw.), während zwischen einem und fünf Prozent der Schülerinnen und Schüler auf verstärkte Massnahmen angewiesen seien. «Damit unsere Schule unter Berücksichtigung dieser fünf Prozent nicht ständig in einem wankenden System unterwegs ist und diese Zahl nicht unnötig steigt, haben wir beschlossen, Eventualitäten präventiv abzufangen», erklärt Jasmin Willisegger.
Negativspirale vermeiden
Dies sei aus verschiedenen Gründen von besonderer Relevanz. «Nehmen wir eine Situation an, in welcher ein Kind vermehrt ein auffälliges Verhalten an den Tag legt, welches im Schulalltag zu problematischen Situationen führt. Häufig zieht das verschiedenste Abklärungen nach sich, welche schnell zwei Jahre dauern können. Für das Kind ist das meist eine riesige Belastung, und gerade die Frage, ‘Was ist mit mir falsch?’ kann zu einer Negativspirale führen. Gleichzeitig muss der Unterricht normal weiterlaufen. Um betroffene Kinder nicht durch diese ganzen Mühlen zu schicken von ‘hier noch ein Gespräch’ und ‘dort noch eine Abklärung’ versuchen wir der Stigmatisierung entgegenzuwirken und möglichst früh präventiv zu reagieren.»
Erweiterte Lernumgebung
In der Schule Nottwil setzt man bereits seit Längerem auf einen ganzheitlichen und kompetenzübergreifenden Ansatz. So sind die Schulsozialarbeit, die integrative Begabungs- und Begabtenförderung wie auch erweiterte Angebote wie Sexualpädagogik und Gesundheitsförderung längst Teil der erweiterten Lernumgebung. «Im Dorf weiss man um unser System und das wird von der Bevölkerung mitgetragen – ganz nach dem Sprichtwort ‘Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen’», so Willisegger. Seit 2023 setzt der Kanton nun auf das Entwicklungsvorhaben «Schulen für alle». In dessen Rahmen können Schulen Konzepte einreichen für den Umgang mit herausforderndem Verhalten, welche, sofern sie vom Kanton für gut befunden werden, kantonale finanzielle Unterstützung erhalten. «Wir haben in Nottwil diese Chance genutzt und das Konzept ‘Sprungbrett’ vorgelegt. Dabei arbeiten wir eng mit Schulsozialpädagoginnen zusammen. Zum ‘Sprungbrett’ gehören Springerinnen zur Klassenassistenz, eine Koordinationsperson sowie zwei Personen aus der Schulsozialpädagogik. Diese sind speziell ausgebildet und versuchen präventiv, Muster zu erkennen. Sie haben die Kapazität, zu beobachten, Gruppendynamiken festzustellen, wo nötig einzugreifen und Schritte einzuleiten», erklärt Jasmin Wilisegger. Unter anderem könne dies in Form eines sogenannten «Time-Ins» passieren. «Beim ‘Time-In’ besuchen Kinder die Sozialpädagoginnen und lernen Handlungsstrategien, um in schwierigen Situationen alternative Handlungsmuster anwenden zu können. Dabei geht es nicht darum, das Kind zu separieren, sondern es in seiner sozioemotionalen Entwicklung zu unterstützen. Eine Lehrperson kann das häufig nicht leisten, zusätzlich zu ihrem normalen Lehrauftrag, doch die Sozialpädagoginnen und -pädagogen sind genau darauf spezialisiert und ausgebildet.» Eben dadurch können die übrigen Lehrpersonen entlastet und der normale Schulalltag wie üblich umgesetzt werden.
Konzept ist in Umsetzung
Die Schule Nottwil hat das Konzept «Sprungbrett» dem Kanton bereits im vergangenen Frühling vorgelegt. «Der Kanton hat es bewilligt und wir sind seit anfangs August bereits voll in der Umsetzung», verrät Willisegger.
Heute vs. früher
Herausforderungen im Umgang mit schwierigen Situationen im Schulumfeld, der staatlich vorgegebene integrative Ansatz sowie grundsätzlich das Verhalten der Lernenden sind Themen, welche in den vergangenen Jahren breit diskutiert und dementsprechend häufig medial aufgegriffen werden. Dies sei wenig überraschend, findet Jasmin Willisegger, denn: «Das Thema Schule ist bei den Leuten sehr präsent. Alle kennen das aus persönlicher Erfahrung und projizieren das auf ihre eigene Schulzeit. Häufig werden dabei jedoch Situationen aus dem Kontext gerissen.» Zu sagen, «früher war alles besser», greife schlicht zu kurz. «Kinder stehen heute oft unter einem riesigen Erwartungsdruck vonseiten der Gesellschaft. Darüber hinaus wird psychische Gesundheit weit häufiger thematisiert als früher. ADHS, Angststörungen, Personen, welche sich innerhalb des Autismusspektrums bewegen u. a. sind zum Glück nicht länger Tabuthemen. Wir wissen heute in diesen Bereichen mehr und schauen dadurch genauer hin, während früher vieles unter den Teppich gekehrt wurde. Doch dadurch, dass dies nun häufiger thematisiert wird, kann schnell der Eindruck entstehen, es werde immer schlimmer», hält Willisegger fest. Natürlich sei es nicht so, als wären Schulen nicht mit Herausforderungen konfrontiert. «Die haben wir natürlich. Doch eben deshalb etablieren wir nun dieses Konzept. Massnahmen wie diese sind präventiv, niederschwellig und sollen vorbeugen, dass es in der Folge zu unnötigen Kollateralschäden kommt.»