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Sempach

Viel Verantwortung, kleiner Lohn

pd 11. Oktober 2020

Als Sempacher Hebamme erlebte Marie Sigrist-Ambühl in der Zeit von 1918 bis ca. 1940 die schönen und herausfordernden Seiten ihres Berufs, wie unter anderem auch ihre schriftlichen Erfahrungen belegen.

Marie Sigrist-Ambühl, geboren 1891, war eine schreibende Hebamme. Sie war zudem eine strenggläubige Katholikin. Eigentlich wollte die intelligente Frau zuerst Nonne im Frauenkloster Frauental werden, entschied sich dann jedoch für den anspruchsvollen Beruf der Hebamme, den sie ebenfalls als Gotteswerk betrachtete. Zudem wollte sie eine Familie gründen und Mutter werden. Im Jahre 1918 erhielt Marie Sigrist-Ambühl das Hebammendiplom, nachdem sie zuvor ein halbes Jahr lang die renommierte Hebammenschule in St. Gallen besucht hatte.

 

Eine strenge Arbeit

Noch im Jahre 1918 – also im letzten Jahr des blutigen Ersten Weltkriegs, von dem die neutrale Schweiz verschont geblieben war – wurde Sigrist-Ambühl im Alter von lediglich 27 Jahren zur Hebamme von Sempach gewählt. Dort im Stadtarchiv liegen nun auch ihre knappen, etwa dreiseitigen schriftlichen Lebens- und Berufserinnerungen. Die von der Gemeinde bezahlte Sempacher Hebamme hatte zudem die Dörfer und Einzelhöfe im Umkreis von bis zu zehn Kilometern zu betreuen. Dies bedeutete natürlich sehr viel und schwere Arbeit. Ein Fahrrad erhöhte immerhin die Mobilität. Spitalgeburten waren damals eine seltene Ausnahme. Medikamente und moderne Hilfsmittel bei schweren Geburten waren zudem noch nahezu unbekannt.

Rückblickend betrachtet war das Berufsleben Marie Sigrist-Ambühls in deren Worten ein «abwechslungsreiches Schaukelspiel». Freude wechselte ab mit Trauer, «Genugtuung» mit «schmerzhafter Enttäuschung». Es war nicht einfach für die junge Frau, Balance zwischen den Extremen zu halten und nach dem Feierabend Abstand vom Berufsleben zu gewinnen. Monitoring, Supervision oder eine professionelle psychologische Beratung nach besonders dramatischen Ereignissen lagen in den 1920er- und 1930er-Jahren noch in weiter Ferne.

 

Abwaschen vor Geburtshilfe

Schon während einer der ersten Nächte in Sempach spürte die Frau die ganze Härte ihres neuen Berufs. Ein Bauer namens von Eich klopfte heftig und «ungeduldig» an ihre Türe. Da er einen Defekt an seinem Fahrrad erlitten hatte, musste von Eich den letzten Teil seines langen Wegs zu Fuss zurücklegen. Der Mann war in sichtlicher Eile, heute würde man sagen: Er war so gestresst, dass er sogar «stotterte». Seine Ehefrau liege zu Hause alleine in den Geburtswehen. Er brauche dringend Hilfe. Schnell radelte Marie Sigrist-Ambühl los. Im Haus fand sie indessen keinen Strom vor. Immerhin jedoch gab es neben dem Herd genügend Holz zum Anfeuern, sodass sie umgehend mit den «Vorbereitungen» beginnen konnte. Doch musste die Sempacher Hebamme die Pfannen, mit denen heisses Wasser gekocht werden sollte, zuerst gründlich abwaschen. Die arme Ehefrau im Bett schrie bereits vor Schmerzen, sodass sie der Hebamme keine sinnvollen Anweisungen betreffend sauberen Tüchern mehr geben konnte. Zum Glück jedoch fand Marie Sigrist-Ambühl dann nach kurzer Suche saubere Tücher in einem Schrank vor. Der immer noch gestresste Ehemann von Eich trat nach der ersten Aufregung etwas gefasster ins Schlafzimmer hinein und konnte die Hebamme ein wenig unterstützen. Die Geburt selbst verlief dann erfreulicherweise ohne Komplikationen.

 

Zerfetzte Leintücher als Windeln

Windeln fehlten im eher ärmlichen Haushalt, sodass die Hebamme kurzerhand fadenscheinige Leintücher in kleine Fetzen zerriss. Manchmal musste sie sich eben zu helfen wissen. Eine gute Hebamme musste um das Jahr 1920 herum improvisieren können, denn oft fehlte es in den Haushalten am Nötigsten.

Marie Sigrist-Ambühl hatte aus dieser ersten, sehr schwierigen Erfahrung viel gelernt. Sie vergrösserte in der Folge den Inhalt ihres Hebammenkoffers beträchtlich. Ab sofort führte sie ein sauberes Leintuch, sterile Tücher und Windeln, Kerzen und Zündhölzer mit sich. Eine gute, möglichst vollständige Ausrüstung war schon damals viel Wert, denn nicht jede Geburt lief glimpflich ab.

 

Erster Schrei als «Wohltat»

«Komplikationen traten damals häufig auf», erinnerte sich die Sempacher Hebamme. Dann musste ein Arzt gerufen werden. Der angehende Vater holte den Mediziner mit Pferd und Wagen, während des Winters mit dem Schlitten ab. Oft traf der Doktor jedoch zu spät ein, denn das Kind war bereits tot. Ein solches tragisches Ereignis machte Marie Sigrist-Ambühl tieftraurig. Ein wenig Trost bereitete der tiefgläubigen Hebamme, dass sie so manchem Kind wenigstens die Nottaufe spenden konnte. Somit war in ihren Augen die Seele des unschuldigen Babys gerettet.

Eine grosse «Wohltat» war immer der erste, oft noch schwache Schrei des Neugeborenen, «der vom Leben des Säuglings zeugte.» Die Hebamme rettete so manches kleine Leben. Einen Buben namens Hans habe sie zweieinhalb Stunden lang wiederbelebt. Er habe überlebt und sei später ein gesunder, kräftiger Mann geworden, was ihr Freude bereitete.

 

20 Franken pro Geburt

Zu den Pflichten einer damaligen Hebamme gehörte es, der Mutter während der oft krisenhaften Zeit der Niederkunft beizustehen, drei Tage und drei Nächte lang. Genau geregelt war auch der bescheidene Lohn. Pro Geburt erhielt die Sempacher Hebamme 15 bis 20 Franken. Auch der Besuch für die Pflege der Wöchnerinnen an jedem der kommenden neun Tage war in dieser eher mageren Pauschalsumme inbegriffen. Trinkgeld war sehr selten, um so freudiger erinnerte sich Marie Sigrist-Ambühl an einen Fünfliber, den ihr ein dankbarer Ehemann einmal gegeben habe. 

Fabian Brändle

 

Quellen: Sigrist-Ambühl, Marie. Erinnerungen. Typoskript im Stadtarchiv Sempach. Favre, Adeline. Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d’Anniviers. Erinnerungen. Zürich: Limmat Verlag 1999.

Fabian Brändle, 1970, ist Historiker, forscht und publiziert zur Geschichte der Volkskultur, zur popularen Autobiographik, zur Geschichte der demokratischen Bewegungen sowie zur Sozialgeschichte des Sports. Er lebt in Zürich.

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