Werner Tschan, was ist sexualisierte Gewalt genau?
Unter diesen Begriff fallen nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen. Oft nutzt dabei der Täter eine schwächere Person aus. Bei Taten der sexualisierten Gewalt unterscheidet man zwischen so genannten Hands-on-Delikten, bei denen es zu Körperkontakt kommt, und Hands-off-Delikten ohne Berührungen, worunter unter anderem das Vorzeigen pornografischen Inhalts, Exhibitionismus oder entwertende Bemerkungen fallen.
Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist das Fehlverhalten von professionell tätigen Menschen, wozu etwa Übergriffe durch Ärzte, Therapeuten oder Kirchenleute zählen. Welche Merkmale sind bei solchen Taten charakteristisch?
Es handelt sich um Übergriffe, bei denen die Täter ihre Macht ausnutzen. Ihre Opfer stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Tätern. Oftmals glaubt auch das Umfeld gar nicht, wenn die Betroffenen von den Misshandlungen erzählen, oder es will es nicht glauben.
Was meinen Sie damit? Angehörige oder Bekannte verdrängen das Gehörte?
Ja, man beobachtet häufig, dass das Umfeld von Opfern abweisend reagiert: Was nicht sein darf, gibt es nicht. Täter setzen diese Tatsache auch bewusst ein, indem sie etwa zum Opfer sagen: Du kannst erzählen, wem und was du willst, es glaubt dir sowieso niemand. Teilweise zweifeln Opfer mit der Zeit auch an der eigenen Wahrnehmung. Bei solchen psychologischen Phänomenen redet man von Dissoziation.
Heute sind Übergriffe generell stärker präsent in der Gesellschaft und beispielsweise auch in den Medien. Ist dies ein Zeichen, dass solche Delikte in jüngerer Zeit zugenommen haben?
Nein, im Gegenteil. Gerade auch aufgrund von Schilderungen älterer Menschen zeigt sich, dass früher sexualisierte Gewalt viel verbreiteter war.
Wie zeigte sich diese sexualisierte Gewalt früher?
Das konnte etwa bedeuten, dass Frauen zuhause zu nicht einvernehmlichem Sex gedrängt worden sind, oder von Menschen, die sie hierarchisch als über ihnen stehend betrachtet haben, gegen ihren Willen bedrängt oder missbraucht worden sind. Etwa 90 bis 95 Prozent älterer Frauen berichten in meiner Praxis davon.
Das ist eine erschreckend hohe Zahl. Die Zahlen von Amnesty International, die im Frühling publik geworden sind, gehen von etwa 20 Prozent der Frauen ab 16 Jahren aus, die in der Schweiz einen sexuellen Übergriff erlebt haben.
Es gilt hier klar festzuhalten, dass jede Form von sexualisierter Gewalt nicht hinnehmbar ist. Und man darf auch nie vergessen, dass leider von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden muss. Doch es ist schon so, dass sexualisierte Gewalt heute weniger vorkommt als früher.
Wie soll man denn nun hinsehen und handeln, wenn sexualisierte Gewalt beobachtet werden kann?
Es ist wichtig, dass darüber geredet wird. Im steten Diskurs muss eine Gesellschaft austarieren, was ok ist und was nicht. Ein Opfer soll sich an Fachpersonen des Vertrauens oder an Opferberatungsstellen wenden und von seinen Erlebnissen erzählen. Man soll einem Opfer raten, nicht alleine zu sein mit dem Erlebten, sondern sich Hilfe zu holen, etwa bei einer Opferberatungsstelle, und mit jemandem da-rüber zu reden. Zivilcourage ist nötig und gut, man darf sich aber nie kopflos dazwischen stellen und sich selber gefährden.
Und was kann die Gesellschaft als Ganzes tun?
Die Augen nicht verschliessen und wie gesagt, immer das Gespräch miteinander suchen. Und die Politik muss viel aktiver werden als heute, etwa, wenn es um die Ausarbeitung von Gesetzen und deren Umsetzung geht.
Was heisst das konkret?
Es muss sich für die Opfer lohnen, sich zu melden und Anzeige zu erstatten. Die Opfer müssen sehen, dass sie genügend geschützt werden und dass ein Täter adäquat bestraft wird. Heute werden Sexualdelikte lediglich im tiefen einstelligen Prozentbereich geahndet. Das muss sich ändern. Und die Verjährungsfristen müssen länger werden, damit sich Opfer auch noch viel später melden können.
Besteht nicht auch die Gefahr, dass jemand einen anderen Menschen leichter anschwärzen kann, wenn es zu mehr Anzeigen und Verurteilungen kommt?
Es kann immer zu Falschaussagen kommen. Doch so viel Vertrauen in die Justiz muss man haben, dass sie genau hinsehen und die korrekten rechtlichen Schlüsse daraus ziehen kann.
Und was soll die Kirche tun, die wiederholt von Missbrauchsfällen betroffen ist?
Auch hier soll sexualisierte Gewalt unbedingt zum Thema gemacht und enttabuisiert werden. Wenn sich potenziell Betroffene melden, muss man sie ernst nehmen und ihnen muss geholfen werden. Es besteht sicherlich auch noch ein gewisser Nachholbedarf, das Thema sexualisierte Gewalt in der theologischen Ausbildung mit einzubeziehen.
Ist nicht auch das Ausblenden der Sexualität, als ob es so etwas nicht geben dürfte, ein Problem?
Natürlich, die Sexualmoral von vielen in der Kirche tätigen Menschen, gerade auch oberer Hierarchien, muss sich ändern. Die Sexualität hat einfach bei den meisten Menschen einen hohen Stellenwert im Leben.
Wie hoch ist die Anzahl Betroffener in kirchlichen Kreisen?
Wir müssen von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Aus diversen Untersuchungen wissen wir, dass vier bis sieben Prozent aller Priester für Übergriffe bekannt sind; aber es gibt auch Glaubensgemeinschaften, wo bis zu 30 Prozent aller Priester Übergriffe verübt haben.
Und bei erwachsenen Männern und Frauen?
Hier ist noch wenig darüber bekannt. Ich halte auch nicht viel davon, zu sehr auf Zahlen herumzureiten. Es geht vielmehr darum, etwas gegen sexualisierte Gewalt zu unternehmen.
Ist der Zölibat schuld an den sexuellen Verfehlungen in der Kirche?
Nein, dies nur darauf zurückzuführen, greift viel zu kurz. In der evangelisch-reformierten Kirche gibt es genauso viele Missbrauchsfälle.
Wie kann bei der Vermeidung von sexualisierter Gewalt auch die Schule eine Rolle einnehmen?
Beispielsweise kann im Fach Lebenskunde erörtert werden, wo die Kinderrechte liegen, was tolerierbar ist und wo die Kinder klar Nein sagen müssen. Oder der Umgang mit Sexualität, etwa auf sozialen Medien, kann zum Thema gemacht werden. Es braucht die stete Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt.
Ist somit die Me-Too-Debatte
mitentscheidend?
Ja, die aus der Frauenbewegung entstandene Debatte hat unter anderem die hohe Zahl der Betroffenen einer breiten Gesellschaftsschicht vor Augen geführt. Die Debatte ist Teil des wichtigen Diskurses, wo die heutigen Normen im Bereich der Sexualität sind.
Hat die Debatte nicht einfach die Männer pauschal an den Pranger gestellt?
Es gibt sicher Männer, die durch die Debatte verunsichert worden sind und eine gewisse Orientierung brauchen. Diese ist ja auch gut und notwendig, damit sie eben wissen, was drin liegt und was nicht.
Kann es ein Leben ohne sexualisierte Gewalt geben?
Nein, leider nicht, sexualisierte Gewalt wird es immer geben. Doch man kann sie vermindern, indem man da-rüber redet und gegenseitiges Vertrauen schafft.
Werner Tschan spricht im Rahmen der Themenreihe «Comeback – zurück zum Vertrauen» am Montag, 11. November, um 19 Uhr im Reformierten Kirchenzentrum Sempach unter dem Titel «Hinsehen und handeln – was tun gegen sexualisierte Gewalt».